Fräulein Leinen blickt streng auf dem Kollegiumsfoto – vielleicht hatte sie, wie man heute bildlich sagt, „Haare auf den Zähnen“ oder war besonders „tough“? Ohne den gewissen Biss hätte sie wahrscheinlich ihre Stelle als Lehrerin an der „Oberschule für Jungen“ in der Adamsstraße, wie es in der Zeit des Nationalsozialismus hieß, gar nicht angetreten, denn sie musste sich lange Jahre hindurch als einzige weibliche Lehrkraft gegen eine Vielzahl von männlichen Kollegen behaupten und darüber hinaus ausschließlich männliche Schüler in den Fächern Biologie, Chemie und Mathematik unterrichten.
Unsere Schule war viele Jahrzehnte lang ausschließlich den Jungen vorbehalten; lediglich in den ersten Jahren, nachdem 1830 die „Höhere Bürgerschule“ gegründet worden war, was in etwa einer Realschule unserer Tage entsprach, waren bis 1848 auch Mädchen zugelassen. Wer jedoch hinter dieser Zulassung der ersten Mädchen einen Beweis der damals ungewöhnlichen und daher als fortschrittlich anzusehenden Koedukation vermutet, wird enttäuscht feststellen müssen, dass ganz profane – nämlich schlicht finanzielle – Gründe die damalige Stadt Mülheim zu solchen Maßnahmen zwangen:
Mülheim konnte sich eine eigene Schule für Mädchen einfach nicht leisten.
Dammbruch – Mädchen am Horizont
Doch noch einmal zurück zu Fräulein Leinen: 1903 und damit noch im Kaiserreich geboren, gestaltete sie das Schulleben vom Kriegsjahr 1943 an bis just zu jenem Zeitpunkt mit, an dem die ersten Mädchen in der Oberstufe unserer Schule für Furore sorgten. Erst zu Beginn des Schuljahrs 1968/69 betraten erstmalig Schülerinnen den anthrazitfarbenen Boden im „Eingang II“, so dass Fräulein Leinen, die zuvor altersgemäß pensioniert worden war, fast ohne jeglichen weiblichen Beistand ihre Schullaufbahn beenden musste – fast, weil es schon vorher durchaus Ausnahmen gab. Sie hießen z.B. Marga Ludemann (Abitur im Juli 1947 im „Sonderlehrgang B3“) oder Steffi Jahn, die 1953 mit ihrer Mutter aus politischen Gründen die Deutsche Demokratische Republik verließ und nach Köln-Mülheim zog. Da es an Mädchenschulen die von ihr gewünschte naturwissenschaftliche Ausrichtung nicht gab, erwirkte der Schulleiter des „Naturwissenschaftlichen Gymnasiums in Köln-Mülheim“, Dr. Paul Börger, beim Kultusministerium eine Sondererlaubnis für den Besuch unserer Schule. Bis auf eine schlechte Erfahrung hatte die spätere Dr. Steffi George den Eindruck, dass sich die Lehrer ihr gegenüber genauso verhielten wie gegenüber ihren Mitschülern. Eine Ausnahme machte ein Lehrer, der ihr gleich am ersten Tag zu verstehen gab, dass ihm ihre Anwesenheit – und das ausgerechnet in ihren schwächeren Fächern Deutsch und Englisch – nicht passte. Eine Art Spießrutenlauf waren für sie Bemerkungen anderer Mädchen, die ihr z. B. zuriefen: „Die ist auf einer Jungenschule!“ Eine offizielle Anerkennung für ihr bestandenes Abitur – Mathematiknote „sehr gut“ – als erstes Mädchen auf der Jungenschule gab es nicht, wenn auch einige Lehrer in persönlichen Gesprächen anerkennende Worte für ihre Leistung fanden.
Die etwas andere 68er-Bewegung
Steffi George stellt kein typisches Beispiel für die Geschlechterrollenproblematik im Übergang zur Koedukation dar, aber ihr Erfolg liefert sicherlich ein Beispiel für den Mut und das Durchsetzungsvermögen von Frauen. Diese Eigenschaften zeichneten auch Marita Kummer aus, die 1968 das Gymnasium als eine der ersten Schülerinnen eroberte, weil sie – das noch druckfrische „Zeugnis der Mittleren Reife“ von der „Realschule für Jungen und Mädchen in Köln-Dellbrück“ in der Tasche – sich besonders für Natur- wissenschaften interessierte. Sie fand im Schuljahr 1968/69 mit drei anderen Mädchen den Weg in den – wie es damals hieß – F-Zweig unserer Schule, der offiziell „Aufbaugymnasium“ genannt wurde. Die Schulchronik weist für den Oktober 1967 ganze vier Mädchen im Vergleich zu 977 männlichen Schülern auf. Zuvor mussten Marita, Brigitte, Nora und Ursula aber gute Noten und ein Gutachten ihrer Realschulen vorweisen, bevor sie – wie eben Marita – am 18. 3. 1968 vom damaligen Schulleiter Adolf Klein aufgenommen wurden. Nachdem diese guten Noten im Aufnahmeantrag besonders für die Naturwissen- schaften nachgewiesen und Marita eine „deutlich erkennbare naturwissenschaftliche Begabung, geistige Aufgeschlossenheit, Fleiß, Leistungswillen, klarer Ausdruck, selbstständiges Denken und sicheres Urteil“ bescheinigt wurden, konnte der „Spaß“ im Klassenraum im dritten Stock des heutigen Altbaus endlich beginnen, denn einen Oberstufentrakt im sogenannten Neubau gab es erst ab 1972.
Allein unter Männern – Ausnahme: Sport
Aber war es tatsächlich Spaß für Marita und ihre Mitschülerinnen der vor-koedukativen Zeit? Haben sie sich wohlgefühlt inmitten der männlichen Mitstreiter an einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium oder waren sie eher isoliert? Marita jedenfalls litt nicht unter der besonderen Rolle, denn ihr half ihre zweite große Vorliebe, der Sport; auf „kameradschaft- liche Art“ – so der Klassenlehrer der Realschule – wusste sie sich zu behaupten, ob im Sportverein oder in der Schule. Schließlich verliebte sie sich sogar in einen Mitschüler aus einer Parallelklasse, wenngleich – so sagt sie heute schmunzelnd – der „Austausch von Zärtlichkeiten“ unter Schülern nicht gern gesehen war. Obwohl sie als Sportlerin Nichtraucherin war (und ist), kann sie sich auch durch ihre Mitarbeit in der damals sogenannten „SMV“ (sie wurde als Mädchen sogar zur Klassensprecherin gewählt!) an ein spezielles Raucherzimmer für Schüler/innen erinnern, allerdings auch an Papierkorbbrände, die durch verantwortungslose Raucher verursacht wurden. Ein kurzzeitig verhängtes Rauchverbot hatte gegen Direktor Klein keine Chance, der als passionierter Zigarrenraucher das „generelle Rauchverbot“ durch Lehrerkonferenzbeschluss vom 12.5.1972 aufheben ließ.
Obwohl Marita aus Liebe zu den Naturwissenschaften den dreijährigen F-Zweig des Mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasiums Düsseldorfer Straße gewählt hatte, war ihr Wunsch, dort auch das Fach Sport zu belegen und später Sport zu studieren, schwer zu realisieren, denn es gab nur männlichen Schulsport, den sie nicht hätte besuchen dürfen. Auf ihre Bitte an Schulleiter Klein, ihr doch diesen Wunsch zu erfüllen, antwortete dieser pragmatisch, dass sie in diesem Falle zum Schulsport ins benachbarte Mädchengymnasium an der Genovevastraße pendeln müsse, was Marita unverzüglich tat. Doch auch damit war das Problem noch nicht gelöst, da die drei Mitschülerinnen nicht unbedingt erpicht auf eine Sportnote waren. Die Schulleiterin der Genovevastraße entschied daraufhin kurzerhand, dass Ursula, Brigitte und Nora zwar zur Teilnahme verpflichtet seien, aber nur Maritas Leistungen benotet werden sollten.
Marita Schlickeiser, wie sie heute heißt, gefiel es also auf der neuen „Penne“ sehr gut, und sie genoss den Umgang mit den weniger „zickigen Jungs“, mit denen sie in den Pausen mit Vorliebe Skat spielte. Ihrer Freundin Ursula Freres dagegen fiel es nicht so leicht, mit dem veränderten Umfeld und den Leistungsanforderungen umzugehen. Obwohl sie das Jungengymnasium an der Düsseldorfer Straße auch aufsuchte, weil sie „die Mädels“ an der Mädchenrealschule in Dellbrück einfach satt hatte und darüber hinaus ein beträchtliches Maß an Eifer und Motivation mitbrachte, empfand sie insbesondere die Naturwissenschaften und die Mathematik als „Schock“. Während die Sprachen und hier besonders Englisch bei „Papa“ Linden sowie auch das Fach Geschichte bei Heribert Reisen ihr Spaß machten, litt sie unter den sehr hohen Leistungsanforderungen – insbesondere im Physikunterricht bei Schulleiter Klein. Noch heute zeigt sich Ursula Maier, deren Kinder Rebecca, Urs und Moritz später ebenfalls unserer Schule die Treue hielten und das Abitur bestanden, überzeugt, dass insbesondere die Lehrer der Naturwissenschaften gerade den gutaussehenden Mädchen eher wenig zutrauten und sie mit erhöhten Ansprüchen konfrontierten, die das Selbstvertrauen der Mädchen nicht immer steigerten.
Frauen im Kollegium – immer noch Mangelware
Vielleicht wären Lehrerinnen im Unterricht für Ursula nach ihrer Einschätzung hilfreicher gewesen, doch diese waren ihr – so erinnert sie sich heute immer noch ein wenig bitter – leider nicht vergönnt. Zweifellos gab
es Lehrerinnen an unserer Schule auch nach dem legendären Fräulein Leinen. Marita Kummer ist besonders Uta Tyrchan im Gedächtnis geblieben, die nicht etwa Französisch oder Latein, sondern ausgerechnet das Fach Physik unterrichtete und damit bei vielen Schüler/innen sehr positiv in der Erinnerung haften blieb. Adolf Klein – selbst Physiker – und andere männlichen Kollegen dagegen begegneten Uta Tyrchan eher mit einer gewissen Skepsis.
Eine weitere Lehrerin der damaligen Zeit trug einen bis heute durchaus bekannten Namen; es war Dr. Marion Klett, die nach relativ kurzer Zeit nach Stuttgart und damit zum Klett-Verlag zurückkehrte. Gertrude Kochen unterrichtete die Mädchen des F-Zweigs im Fach Latein und kann sich – nach ihren Erinnerungen an die männliche Domäne Gymnasium Düsseldorfer Straße befragt – spontan an wenig Spektakuläres erinnern, nicht zuletzt weil sie mit dem Klingelton nach der letzten Stunde das Schulgebäude in Eile verließ, um ihre noch kleinen Kinder zu Hause zu versorgen. Ähnlich erging es ihrer Kollegin Cornelia Cölln, die Anfang der 70er Jahre an unserer Schule Biologie unterrichtete und sich an Schülerinnen nur sehr dunkel erinnern kann.
Ilse Jentsch, die von 1967 bis 1997 die Fächer Erdkunde, Biologie und Englisch am Rhein-Gymnasium unterrichtete, stellte aus der Lehrerinnen Perspektive keine Bevorzugung oder Benachteiligung der Mädchen fest. Nach der Pensionierung „Fräulein Leinens“ fühlte sie sich als einzige weibliche Lehrkraft im männlich dominierten Kollegium akzeptiert und schließt – heute danach befragt – eine geschlechtsspezifische Diskriminierung aus. Es habe lediglich ganz allgemein „menschliche Probleme“ im Lehrer-Schüler-Bereich gegeben. Im Hinblick auf Interesse am Unterricht, Spontaneität und Auffassungsgabe glaubt Ilse Jentsch jedoch, das vielfach zitierte Phänomen der größeren mathematisch-naturwissenschaftlichen Begabung der Jungen sowie der besonderen sprachlichen Fähigkeiten der Mädchen bestätigen zu können.
Reifeprüfung 1972
Marita Kummer konnte diesem geschlechtsspezifischen Muster zu ihrem Leidwesen nur bedingt entsprechen. Als sie sich im Frühjahr 1972 der Abiturprüfung stellte, wurde sie mit einer mündlichen Englischprüfung konfrontiert, die schon im fertiggestellten Neubau, mutmaßlich im heutigen Englischfachraum (233), und vor einer ganzen Reihe natürlich männlicher Kollegen stattfand ... Da half auch die Klassenfahrt nach London mit Klassenlehrer „Papa“ Linden und der jungen Physiklehrerin Tyrchan nicht ernstlich weiter! Immerhin musste schon damals – genau wie heute – eine weibliche Lehrkraft die Klasse begleiten, da dieser eben auch Schülerinnen angehörten.
Die Reifezeugnisse wurden den Abiturient/innen anschließend am 27.5.1972 im Rahmen einer kleinen Feier in der Mülheimer Stadthalle verliehen, ein schon traditionelles Vorgehen an unserer Schule, durchaus sinnvoll, weil anders als heute noch keine schöne große Aula zur Verfügung stand. Das Protokoll der Gesamtkonferenz vom 12.5.1972 hält fest:
10.00 Uhr Austeilung der Reifezeugnisse durch die Ordinarien
10.30 Uhr Empfang durch das Lehrerkollegium mit kurzer Ansprache des Schulleiters bei Kölsch und alkoholfreien Erfrischungsgetränken.
Eltern können wegen Raummangel nicht eingeladen werden.(!)
Weder der Kaufmann Karl Kummer aus Holweide noch der Landwirt Christian Peter Hintzen aus Niederaußem im linksrheinischen Braunkohlerevier, Besitzer einer Hühnerfarm und Vater von Brigitte, oder der aus Chemnitz stammende Modellschreiner Harry Fischer, Vater von Nora, geschweige denn die dazugehörigen Ehefrauen respektive Mütter durften an der Entlassungsfeier teilnehmen. Diese heute kaum vorstellbare Einschränkung galt natürlich auch für die Schüler!
Koedukation – allem Widerstand zum Trotz
Während aber hier nur der „Raummangel“ eine ursächliche Rolle spielte, verhielt es sich mit der Zulassung von Mädchen an dieser langjährigen „Jungenschule“ doch etwas anders. Mädchen waren lange Zeit eher unerwünscht oder wurden als Störfaktoren betrachtet, so dass ein ehemaliger Schüler und Abiturient des Jahres 1904 in der Festschrift zum 125jährigen Bestehen unserer Schule die Hoffnung äußert, dass „mit der Fertigstellung des neuen Schulgebäudes (in der Düsseldorfer Straße Mitte der 50er Jahre, Anm. d. Verf.) die – hoffentlich endgültige – Trennung von den Mädchen verbunden ist“ (vgl. Festschrift S. 11). Dr. Wilhelm Söhling bezieht sich hier auf die „schreckliche“ Nachkriegszeit, in der die Schüler unserer Schule aufgrund der Zerstörung des alten Schulgebäudes in der Adamsstraße (heute Betriebsgelände der Firma Fleischhauer) im Mädchengymnasium in der Genovevastraße unter- richtet wurden – ein Umstand, den Helmut Klumb, der Ostern 1954 das Abitur bestand, durchaus goutierte. In einer schweren Zeit – Helmut wurde 1942 im Hölderlin-Gymnasium eingeschult und wechselte später zu unserer Schule – , in der junge Menschen weniger an Unterricht und Lernen, sondern an Kohle und Brot dachten, fand er immerhin die „Liebe“ durch die räumliche Nähe zum Mädchengymnasium.
Die oben zitierte Lehrerin Kochen erinnert sich an manche kritische Äußerung ihrer männlichen Kollegen und auch des Schulleiters Adolf Klein, die der drohenden Koedukation Ende der 60er bzw. Anfang der 70er Jahre mehr als skeptisch gegenüber standen. Doch trotz manchen Widerstands konnte sich die Schule auch hier nicht dem Genossen Trend verweigern: Die Koedukation setzte sich auch im rheinischen Köln durch – und damit endlich auch am Mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium in Köln-Mülheim.
Ein Mann beantragt die Koedukation
Am Freitag, dem 5. März 1971, gegen 18 Uhr war es endlich so weit: Studienrat Dietrich Neuhaus stellte in der Gesamtkonferenz den Antrag auf „Umwandlung unserer Jungenschule in eine Koedukationsschule“, den das Kollegium einstimmig – bei einer Enthaltungannahm, wie Schulleiter Adolf Klein am 15. 3. 1971 dem „Schulkollegium beim Regierungspräsidenten in Düsseldorf“ mitteilte. Der Beschluss laut Protokoll der Lehrerkonferenz im Wortlaut: „Der Schulleiter möge die Umwandlung in eine Koedukationsschule zum frühestmöglichen Zeitpunkt veranlassen. Dazu ist Zusammenarbeit mit dem benachbarten Mädchen-Gymnasium sowie die Einrichtung eines neusprach-lichen Zweiges i. E. notwendig.“ Warum die Koedu- kation dennoch nicht im folgenden Schuljahr 1971/72 eingeführt wurde, in dem es das Gymnasium Düsseldorfer Straße immerhin schon auf 47 Schülerinnen brachte, verdeutlicht eine kleine Notiz im Schlussteil des Protokolls der Allgemeinen Konferenz vom 16. August 1971: „Auf Anfrage erklärte der Direktor, dass es an den bei der Mädchenschule Genovevastraße liegenden Schwierigkeiten liege, wenn die ursprüngliche Absicht nicht verwirklicht werden konnte, unser Gymnasium mit Schuljahresbeginn zur Koedukationsschule zu machen. Es werde in dieser Richtung jedoch weiter gearbeitet, um doch noch einen Konsens mit den Kollegen (man beachte die männliche Form! Anm. d. Verf.) des Mädchengymnasiums zu finden.“ – Was verschweigt da Studienrat Neumann, der Protokollführer? Es ging schlicht um die Koordination der Umwandlung des Mädchengymnasiums einerseits und des Jungengymnasiums andererseits in zwei koedukative Schulen.
Aller Anfang ist schwer ...
Neben diesen „zwischen-menschlichen“ oder besser „zwischen-schulischen“ Problemen gab es auch „handfestere“ Schwierigkeiten wie die – und auch das gehört zum Thema! – fehlenden Mädchen- und Lehrerinnen-Toiletten. Noch heute erinnert die etwas ungewöhnliche Ausstattung der Damentoiletten, die sich im Alt- wie im Neubau selbstverständlich im zweiten Stock befinden, so dass die Kollegen das Privileg der „kürzeren Wege“ aus der männlich dominierten Zeit vor der Koedukation „herüber retten“ konnten, an alte Zeiten. Während die Mädchentoiletten 1973 eingebaut wurden – dringend nötig, denn immerhin gab es 95 Mädchen bei 1080 Jungen -, wurde wohl aufgrund der Sicherheitsprobleme an der Baustelle allen Schüler/innen gestattet, „unter Gang-Aufsicht in den Klassen (zu) bleiben“, ohne dass damit ein Aufenthaltsrecht in den Gängen verbunden gewesen wäre. Der Zusatz des Protokolls der Gesamtkonferenz vom 9. 8. 1973 veranschaulicht, dass schon damals manche Fragen zu den auch heute bekannten Diskussionen in der Lehrerkonferenz führten: „Auf die Frage nach `Verhaltensmaßregeln für aufsichtführende Lehrer`(wieder die männliche Form, obwohl etliche Frauen an der Schule unterrichteten, Anm. d. Verf.) erfolgte noch einmal der Hinweis, dass Fußballspielen im Gebäude allen und Rauchen den Unter- und Mittelstufenschülern untersagt ist.“
Ein angesichts heutiger Überlegungen erstaunlicher Beschluss, noch dazu, wo in den Klassenräumen qualvolle Enge herrschen musste, wie das Protokoll der Lehrerkonferenz vom 24. 4. 1972 eindrucksvoll belegt: „Bedingt durch ca. 160 (!) Anmeldungen von Sextanern (darunter 30 Mädchen) werden im kommenden Schuljahr 4 (!) Parallelklassen eingerichtet, auf die die Mädchen gleichmäßig verteilt werden.“ Wir halten fest, dass sich ca. 40 Fünftklässler während der Pausen in den Klassen aufhielten und in jeder Klasse 7-8 Mädchen einer Übermacht von Jungen gegenüber standen.
Eines dieser 1972 aufgenommenen Mädchen war Karin Paffrath, die nach sechs Jahren die Schule wieder verließ, um die Höhere Handelsschule zu besuchen. Vielleicht spielte bei dieser Laufbahnplanung aber auch der Umstand eine Rolle, dass Karin Schlie, wie sie heute heißt, sich am Gymnasium Düsseldorfer Straße nicht besonders wohl fühlte, was allerdings nicht an der Koedukation oder den männlichen Mitschülern lag, sondern daran, dass viele Mitschüler offenbar bei Parties heimlich verbotene Substanzen konsumierten.
„Für Mathematik bist du zu dumm!“
Heike Klumb, die 1976 vom Gymnasium Höhenhaus zu unserer Schule wechselte, weiß, dass ihre Mitschüler in der Tat zwischen Schulgebäude und Bootshaus oder auch in den Toilettenräumen Dinge taten, die offiziell verboten waren. Da Heike aber auch Sportlerin war – sie ruderte unter „Knäcke“ (Fritz Keunecke, Englisch- und Sportlehrer) –, hatte sie mit solchen Aktivitäten „nichts am Hut“. Anders als Marita Kummer war Heike an den Naturwissenschaften nicht interessiert, was sie im Aufnahmegespräch mit Schulleiter Adolf Klein auch zugab. Obwohl sie hier ehrlich antwortete und das Genovevagymnasium ihr als Alternative nahe gelegt wurde, nahm Klein sie auf, aber noch heute wurmt sie die Haltung eines späteren Mathematiklehrers, der aus seinen Vorurteilen gegen- über Mädchen auch Heike war noch immer das einzige Mädchen in ihrer Klasse 11 – keinen Hehl machte und sie damit in Ängste und Minderwertigkeitskomplexe stürzte. Als eine spätere Mitschülerin – Uta Löttgen – dem betreffenden Kollegen das Gegen- teil bewies, war das für Heike eine späte Genugtuung. Der Albtraum: „Für Mathematik bist du zu dumm!“ verfolgte Heike, die heute Wehner heißt und als Lehrerin gerne Mathematik unterrichtet, bis in die Abiturprüfung in Mathematik, die sie nur erfolgreich durchstand, weil eine „nette Mathematiklehrerin“ (wahrscheinlich Christel Roessler) ihr Mut und Durchhaltevermögen einflößte. Übrigens fuhren auch Heike Klumb und Cassia Cürten, heute Ballettlehrerin in Mülheim, wie schon Marita Kummer nach England – mit Englischlehrer Jochen Paeslack und der heute noch unterrichtenden Christiane Walter, die „sich rührend um uns kümmerte und dafür sorgte, dass wir etwas zu essen bekamen.“
Und heute? – New Age am Rhein-Gymnasium?
Wie geht es den Mädchen an unserer Schule heute? Sie fühlen sich – nicht anders als die Jungen, wie sie z.B. in einer Umfrage zum Frauentag am 8. März recht zahlreich bekundeten. Keine einzige Klage über Benachteiligung oder Diskriminierung wurde geäußert. Beschwerden gibt es andererseits durchaus von Seiten der Jungen, wenn beispielsweise seit einigen Jahren die (kostenlosen) Mädchenkalender (Danke Stadt Köln!) zu Beginn des Schuljahres verteilt oder Mädchen für „Schnuppertage“ an Universitäten oder in Betrieben – z.B. am Ende April stattfindenden „Girls’ Day“ – freigestellt werden. Neid wird hier deutlich und Erklärungsbedarf besteht jedes Mal, um dem ehemals dominanten Geschlecht am Rhein-Gymnasium zu verdeutlichen, warum auch heute noch Frauen und Mädchen in unserer Gesellschaft in mancherlei Hinsicht benachteiligt und solche Vergünstigungen daher gerechtfertigt sind.
Um Benachteiligung abzustellen und möglicherweise bessere Leistungen zu erzielen, ist der heutige Schulleiter Dr. Jochen Hoffmann mit einem nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht in den Klassen 8 und 9 einverstanden. Die bloße Existenz gleich mehrerer Sportlehrerinnen nach langen Jahren des vielleicht eher männlich dominierten Schulsports dokumentiert schon rein äußerlich strukturelle Veränderungen in diesem Bereich. Das von einem Kolleg/innen-Team verfolgte Förderkonzept für Jungen und Mädchen sieht nicht nur gemeinsame Selbstbehauptungskurse im Klassenverband, sondern auch geschlechtsspezifische Selbstbehauptungstrainings vor. Beides konnte in den letzten Jahren in den Jahrgangsstufen 6 und 7 in Zusammenarbeit mit den Fachleuten der Kölner Polizei sowie mit zwei außerschulischen Experten im Rahmen eines GÖS-Projekts realisiert werden. Eine „Ansprechpartnerin für Gleichstellungs- fragen“ steht Schüler/innen und Kolleg/innen – also bewusst beiden Geschlechtern – bei Fragen und Problemen zur Verfügung und „wacht“ z.B. bei schulscharfen Ausschreibungsverfahren über die Gleichbehandlung der Geschlechter. In schulinternen Veröffentlichungen wird zwar „man“ nicht durch „frau“ ersetzt – und das ist gut so! – doch ist es immerhin heute gängige Praxis, Schüler/innen und Lehrer/innen nicht mehr geschlechtsneutral anzusprechen.
Aber noch immer sitzen in Informatik oder den naturwissenschaftlichen Kursen der Oberstufe mehr Jungen als Mädchen, noch immer sind Mädchen in den Sprachkursen in der Überzahl. Doch obwohl auch Schule im neuen Jahrtausend die geschlechtsspezifische Sozialisation und Rollenverteilung in unserer Gesellschaft nicht aufheben kann, erreichen wir im Jubiläumsjahr immerhin einen numerischen Gleichstand zwischen den Geschlechtern, denn im 2. Halbjahr des Schuljahrs 2004/2005 gibt es genau 450 Jungen und 450 Mädchen, die von 27 Kollegen und 27 Kolleginnen unterrichtet werden. In einer ganz speziellen Hinsicht bleibt allerdings auch das Rhein-Gymnasium männlich dominiert: Es gibt mit Friedhelm Peffgen nur einen Hausmeister und der ist zweifelsohne ein Mann ...
Kornelia vom Hofe (2005)