Aktualität, sozialer Wandel und Interdisziplinarität

Das Fach Sozialwissenschaften in der Oberstufe des Gymnasiums


Als der Artikel 11 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen 1950 feststellte, dass in „allen Schulen ... Staatsbürgerkunde Lehrgegenstand und staatsbürgerliche Erziehung verpflichtende Aufgabe” ist,  dachte am damaligen Vorläufer unseres Gymnasiums noch niemand an ein Fach Politik oder Sozialwissenschaften. In der heute etwas sonderbar anmutenden Sprache der ersten Nachkriegsjahre verwies die Verfassung damit auf die Notwendigkeit eines sowohl inhaltlich-fachlichen Lernens wie auch auf das Unterrichtsprinzip der Politischen Bildung, das darauf abzielt, eine Erziehung „im Geiste der Mitmenschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit” (Art. 8.2) zu realisieren.

Da die Landesregierung in NRW zunächst auf ein eigenes Unterrichtsfach zur Politischen Bildung verzichtete  und an allgemeinbildenden Schulen dem Geschichtsunterricht die oben genannten Aufgaben zuwies, durften erst die Schüler der sechziger Jahre - an unserer Schule noch vorwiegend männlich - einen Geschichtsunterricht unter der Fachbezeichnung “Geschichte/Politik” bzw. „Geschichte mit Sozial- kunde” erleben. Diese von Kritikern als „Schwänz- chenlösung” bezeichnete Mischform passte zur  nordrhein-westfälischen Fassung der „Gemeinschafts- kunde” in der Oberstufe des Gymnasiums, die lediglich einen formalen Rahmen für die Fächer Geschichte, Erdkunde und Philosophie bildete.

Ab 1972 wurden schließlich in allen allgemein- bildenden und berufsbildenden Schulen das Fach Politik und in der gymnasialen Oberstufe das integrative Fach „Sozialwissenschaften” eingeführt. Neue, anspruchsvolle Richtlinien  wurden entwickelt, und die Hochschulen begannen mit der Ausbildung  sozialwissenschaftlicher Fachlehrer/innen, die Anfang der 80er Jahre auch vermehrt ans „Gymnasium Düsseldorfer Straße“ versetzt wurden. Während es zunächst nur Grundkurse gab, wuchs das Schüler- interesse stetig und führte so zur Einrichtung von Leistungskursen. Inwiefern auch die Tatsache, dass der langjährige Schulleiter Wolfgang Wolf das Fach – allerdings mit einer starken  ökonomischen Aus- richtung – selbst unterrichtete, zu größeren „Sowi-Kursen“ beitrug, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden. In jedem Falle aber sorgte die immer bessere Ausstattung mit Materialien im bald zur Verfügung stehenden und von Schüler/innen und Lehrer/innen renovierten Fachraum - damals schon  Raum 133 im Neubau -  für weiteren  Zulauf.

Das Fach zeichnet sich bis heute durch Schüler-, Situations- und Zeitbezug sowie Aktualität aus und berücksichtigt insbesondere, dass die moderne Welt durch einen dynamischen sozialen Wandel geprägt ist, dessen Konsequenzen für Individuen, Institutionen und Gesellschaft erheblich sind. Soziologen beschreiben diese Entwicklung mit  Stichworten wie "Individua- lisierung" und "Pluralisierung" oder auch "Globa- lisierung" und "Reflexivität" (vgl. Beck 1986, Giddens 1995) und verweisen damit auf Vorgänge der „Verflüssigung“ von Identitäten und Strukturen, auf Vernetzungen und die Theoretisierung von Denken und Handeln. Zentrale Orientierungen der Menschen (vom Bearbeiten der Knappheit zur Suche nach Erlebnis), Differenzierungen im Lebensstil und dabei die Bildung neuer Großgruppen als Milieu-Segmente (vgl. Schulze 1992) sind weitere Elemente sozialen Wandels, die relevante Gegenstände des sozialwissenschaftlichen Unterrichts darstellen.

Auch am Rhein-Gymnasium behandelt der sozial- wissenschaftliche Unterricht durchweg Themen, die im Alltag und im öffentlichen Leben Entscheidungs- und Beurteilungsprobleme darstellen. Keine Gesellschaft und keine Kultur sind denkbar ohne gemeinsame Grundnormen und Werte, so dass deren Klärung und die Auseinandersetzung mit diesen  sich als unbedingt notwendig erweisen. Auch Schüler/innen sollten zu Kritikfähigkeit, Urteilsfindung und –be- gründung durch die Diskussion von Normen und Werten, aber auch durch die Vermittlung von Theorien und gesellschaftlicher Realität befähigt werden. So stellen beispielsweise Demokratietheorien und handfeste Kenntnisse über politische Institutionen und Verfassungsorgane einerseits ebenso unverzichtbare Themen des sozialwissenschaftlichen Unterrichts dar wie Wirtschaftspolitik oder die Auseinandersetzungen um Markt- oder Planwirtschaft andererseits, die Entwicklung der Europäischen Union oder die Diskussion um die Zukunft des Sozialstaats unter aktuellen Etiketten wie „Hartz IV“.

Diese im Unterricht vermittelten Inhaltsfelder wurden und werden an unserer Schule inzwischen durch eine Reihe von außer-unterrichtlichen Aktivitäten ergänzt. Die Teilnahme am „Planspiel Börse“ wurde besonders unter der Regie von OStD Wolf häufig mit siegreichen Plätzen belohnt. Vergleichsweise früh verband auch ein Kooperationsvertrag das Rhein-Gymnasium mit der am Clevischen Ring gelegenen Niederlassung der BASF, so dass zwischen 1997 und 2003 alle Klassen der Stufe 8 im Rahmen des Politikunterrichts sowie Oberstufenleistungskurse im Fach Sozialwissenschaften den Betrieb erkunden durften. Nach einer Begrüßung, häufig durch die „Chefetage“ persönlich, denn Dr. Günter Dunkelmann und später Dr. Erwin Stark ließen sich das, wenn sie im Hause waren, nicht nehmen, tauchten die Schüler/innen in die Produktion ein, besichtigten Steuerungszentrale, Kläranlage und Hochregallager, richteten ihre im Unterricht vorbereiteten Fragen an z.T. hochrangige Experten und Mitarbeiter des Betriebs, bevor sie mit einem kostenlosen  Mittagessen in der Werkskantine verabschiedet wurden.
  

Leider endete die für alle Beteiligten interessante und fruchtbare Zusammenarbeit durch die Umstruktu- rierung und Verkleinerung der Niederlassung im Schuljahr 2003/04. Auf der Suche nach einem neuen Partner erntete die Fachschaft Sozialwissenschaften leider bisher nur Absagen. Umso erfreulicher war das Angebot der Bayer AG, im Schuljahr 2004/05 wiederum den Klassen 8 eine Betriebsbesichtigung mit Rundfahrt auf dem Werksgelände zu ermöglichen.

Neben anderen individuellen Kontakten mit der gesellschaftlichen Realität bietet das dreiwöchige Betriebspraktikum in der Stufe 10 erneut die Gele- genheit, die in der Schule vermittelten theoretischen Kenntnisse mithilfe der „Praxis“, nämlich der Arbeitswelt, zu ergänzen und zu vergleichen. Seit einigen Jahren organisieren Sozialwissenschaftlicher und Historiker zudem gemeinsam die  Studienfahrt der Stufe 10 nach Berlin, damit der Deutsche Bundestag, die deutsche Demokratie sowie die Teilung und Wiedervereinigung unseres Landes für junge Menschen nicht nur „graue Theorie“ bleiben. Es versteht sich darüber hinaus von selbst, dass die Fachschaft Sozialwissenschaften seit Jahren vor Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen Vertreter/innen der Parteien oder sogar unsere direkten Wahlkreiskandidat/innen zur „politischen Diskussions  runde“ in die Schule einlädt, um das Interesse der Schüler für die Politik zu erhöhen und  die in unserem Land seit Jahren rückläufige Wahlbeteiligung zu verbessern.

Da sich im Schulfach Sozialwissenschaften auch durch die oben geschilderten Aktivitäten die schon erwähnte wissenschaftspropädeutische Zielsetzung und die erzieherische Dimension verbinden sollen, müssen auch die Richtlinien des Faches mehr als reine Stoffkataloge enthalten, denn diese lassen die Frage offen, wohin Unterricht bzw. Erziehung führen sollen. Sozialwissenschaftlich begründete Zielsetzungen entwachsen unmittelbar der sozialen Wirklichkeit selbst und wirken - wie bei allen politisch relevanten Fächern - auf diese zurück. So betonen die im Laufe der letzten 30 Jahre erlassenen Richtlinien besondere Zielvorstellungen oder so genannte Qualifikationen, die immer wieder aktuell auf sich wandelnde politische und gesellschaftliche Probleme bezogen werden können, so etwa die
Fähigkeit und Bereitschaft,
· sich in gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Zusammenhängen zurecht zu finden,
· Herrschaftsverhältnisse nicht ungeprüft hinzu- nehmen und sie in ihrem zeitgeschichtlichen Bezug zu verstehen,
· die Chancen zur Einflussnahme auf gesellschaftliche, politische und wirtschaft- liche Strukturen, Herrschaftsverhältnisse zu nutzen,
· in politischen Alternativen zu denken und zu lernen, sich zu engagieren,
· eigene Rechte und Interessen zu vertreten, aber auch gesellschaftliche Interessen und Interessen anderer (z. B. Benachteiligter) zu erkennen und ihnen ggf. den Vorrang zu geben;
· sich für die Demokratisierung und Huma- nisierung der Arbeitswelt einzusetzen etc.

Die oben exemplarisch ausgewählten Qualifikationen belegen aber nicht nur die Aktualität des Faches, sondern auch seinen integrativen Charakter. Das Streben nach Integration von Soziologie, Ökonomie und Politologie lässt sich schlicht durch die gesellschaftspolitische Realität begründen, denn die Grenzen der Fachgebiete sind keine Wirklichkeits- grenzen. Eine ganze Reihe von Unterrichtsthemen kann die Plausibilität des integrativen Ansatzes verdeut-lichen – hier sei exemplarisch das die öffentliche Diskussion beherrschende Thema „Arbeitslosigkeit“ genannt, das mit seinen Ursachen und Lösungsansätzen in den Wirtschaftswissenschaften angesiedelt ist, aber mit seinen sozialen Implikationen und Folgen in den gesellschaftlichen Bereich verweist und wie kaum ein anderes Problem politische Diskussion und Hand- lungsstrategien hervorgebracht hat. 

Dieses Beispiel verdeutlicht, was Interdisziplinarität heute bedeutet, nämlich Verknüpfung der verschie- denen Disziplinen über das Thema bzw. den Gegenstand. Die fachdidaktische Diskussion  drehte sich immer wieder um die Frage, wie Zusammenhang und Polarität zwischen den drei Teildisziplinen im Unterricht umgesetzt werden soll(t)en. Andere Denkmodelle wie die Addition der Einzel- wissenschaften oder die Arbeit mit Leitwissenschaften zwangen Schulleiter Wolfgang Wolf auch am Rhein-Gymnasium zur  Einrichtung von „Sowi-Kursen“ mit dem besonderen „soziologischen“ oder „ökonomi- schen“ Schwerpunkt. Erleichtert nehmen wir zur Kenntnis, dass solche künstlichen Konstruktionen der Vergangenheit angehören und wir heute stattdessen der Sequentialität (welch ein Wort!) des Lernprozesses huldigen, der in der Oberstufe spiralförmig den Weg vom konkreten Arbeiten zum abstrakten Auswerten beschreitet.

Die im Jahre 1999 für die Oberstufe von Gesamtschulen und Gymnasien herausgegebenen neuen Richtlinien und Lehrpläne bestärken wiederum die interdisziplinäre Integration der drei genannten Teildisziplinen im wissenschaftspropädeutischen Sinne und betonen darüber hinaus ein handlungs- und produktorientiertes Lernen. Die früheren verbindlich vorgegebenen „Lernbereiche“ wurden durch sechs „Inhaltsfelder“ ersetzt und durch sechs neue „Methodenfelder“ ergänzt, die dem sozialwissen- schaftlichen Unterricht klare Anforderungsstandards zuordnen sollen (siehe auch Tabelle unten). Sie helfen darüber hinaus bei der jährlich schwerpunktmäßig in den Weihnachtsferien stattfindenden Ausarbeitung der Abiturvorschläge, die noch in der Verantwortung der an unserer Schule in jedem Jahrgang unterrichtenden Grund- und Leistungskurslehrer/innen liegen. Noch – denn mit dem Abitur 2007 reduziert das bis dahin eingeführte „Zentralabitur“ den Freiraum jeder Lehrkraft und vor allem auch der Schüler/innen um ein erhebliches Maß.
Es ist hoffentlich deutlich geworden, dass das Fach Sozialwissenschaften entgegen manchen „Vorurteilen“ in der Öffentlichkeit einen durchaus anspruchsvollen und sinnvollen Lernprozess  in der gymnasialen Oberstufe zu initiieren vermag, der aber nur realisiert werden kann, wenn ihm die nötige Zeit eingeräumt wird. Die Frage stellt sich, ob dieses Ziel in nur 12 Schuljahren oder bei wegen Lehrermangel nicht erteiltem Politikunterricht in der Sekundarstufe I auch nur annähernd realisiert werden kann, auch wenn sich rein äußerlich die Bedingungen z.B. durch die Ausstattung des Fachraums mit Medien oder die Abonnements unterstützender Fachzeitschriften verbessert haben. Auch bleibt abzuwarten, wie sich die inzwischen umgesetzte Schwerpunktbildung – Pflicht- belegung von zwei Fremdsprachen oder zwei Natur- wissenschaften – in der gymnasialen Oberstufe auf die Gesellschaftswissenschaften und insbesondere das Wahlverhalten der Schüler/innen auswirken wird. Die Inhalte des Faches Sozialwissenschaften jedenfalls haben angesichts anhaltend hoher Arbeitslosigkeit, der Wahlerfolge extremer Parteien, der massiven Probleme des europäischen Integrationsprozesses oder der globalen Bedrohungen jeglicher Art nicht an Relevanz verloren.

Literatur zum Thema

Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne.  Frankfurt: Suhrkamp 1986
Breit, Gotthard/Massing, Peter (Hg.): Grundfragen und Praxisprobleme der   politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1992
Engel, Monika / von Olberg, Joachim: „Politische Bildung in Nordrhein-Westfalen, in: POLIS  4/1999
Gagel, Walter/Schörken, Rolf (Hg.): Zwischen Politik und Wissenschaft. Politikunterricht in der öffentlichen Diskussion. Opladen: Leske + Budrich 1975
Gemein, Gisbert/Kienel, Hartmut (Hg.): Politik und Unterricht. Wer bestimmt, was Schüler lernen? Richtlinien für den Politikunterricht in der Diskussion. Essen: Neue Deutsche Schule Verlagsgesellschaft 1975
Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995  (zuerst 1990)
Grammes, Tilman: Handlungsorientierung im Politik- unterricht. Hannover: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung 1995
Hilligen, Wolfgang: Didaktische Zugänge in der poli- tischen Bildung. Schwalbach, Ts.: Wochenschau 1991
Reinhardt, Sibylle: Unterricht, Didaktik und Lehrer- ausbildung in Politik und Sozialwissenschaften in NRW in: Rothe, Klaus (Hg.): Unterricht und Didaktik der politischen Bildung in der Bundesrepublik Opladen: Leske + Budrich 1989, S. 199-231. 


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