Lateinunterricht gestern, heute – und morgen?

Kein zweites Unterrichtsfach ist wohl in gleichem Maße ein klassisches Gymnasialfach wie das Lateinische, denn an keiner anderen Schulform (mit gewissen Abstrichen nur noch in der Gesamtschule) hatte und hat der Lateinunterricht ein Zuhause


1. Lateinunterricht – von gestern?

Dies zeigt auch der Blick auf die wechselvolle Geschichte unserer Schule, die ja mehrfach ihre Ausrichtung und damit natürlich auch ihren Lehrplan verändert hat. Im Schuljahr 1900/1901 beispielsweise, als unsere Schule zugleich als Vollständiges Gymnasium und als Real-schule fungierte, war das Lateinische das Fach mit dem größten Stundenvolumen: In der 5. und 6. Klasse mussten Schüler acht Stunden wöchentlich Lateinunterricht „ertragen“, in den weiteren sieben Schuljahren „nur“ noch sieben Stunden pro Woche. Ab der 8. Klasse kamen noch sechs weitere Stunden Altgriechisch hinzu, so dass der Unterricht in den beiden alten Sprachen in „Spitzenzeiten“ ein wöchentliches Gesamtvolumen von 13 Unterrichts- stunden ausfüllte. Anders als heute waren auch die Realschüler nicht vom Lateinunterricht verschont, den sie ab der Klasse 9 siebenmal in der Woche besuchen mussten.
Im Schuljahr 1930/1931, als unsere Schule den Status eines Realgymnasiums innehatte, bedeutete dies zugleich für den Lateinunterricht den Verlust seiner zentralen Stellung. Nun standen für die Schüler je vier Stunden pro Woche an, und dies erst ab Klasse 7. 
Tempora mutantur, nos et mutamur in illis : Zur Zeit wird Latein am Rhein-Gymnasium in den Jahrgangs stufen 6-12 unterrichtet: Schülerinnen und Schüler, die sich für das Lateinische als zweite Fremdsprache entscheiden, erhalten in der Klasse 6 und 7 je vier Stunden pro Woche, in der Klasse 8 im 1. Halbjahr 3 Stunden, im 2. Halbjahr 4 Stunden, von der 9 bis zum Latinum am Ende der Jahrgangsstufe 10 je drei Stunden Unter-richt. Des weiteren besteht die Möglichkeit, Latein ab der Jahrgangsstufe 8 als dritte Fremdsprache zu wählen, hier verteilt sich der Unterricht auf je vier Wochenstunden in den Klassen 9 und 10 und je drei in den Jahrgangsstufen 11 und 12. Das Lateinische ist demnach derzeit am Rhein-Gymnasium eher ein „Mittelstufen“-Fach mit mehr oder weniger kurzer Fortsetzung in der Oberstufe. Jedenfalls ist es nicht mehr, wie früher an Gymnasien üblich, ein „Kernfach“  oder Abiturfach.
Aber ist Latein denn überhaupt noch zeitgemäß? Welche Erinnerungen verbinden sich denn bei vielen Er-wachsenen heute mit dem Lateinunterricht, den sie selbst unter Umständen in ihrer Schulzeit erlebt, manche würden wohl sagen: überlebt haben? Trifft nicht das Bild zu, dass auch unsere Schülerinnen und Schüler bei der Beschäftigung mit dem Film „Der Club der toten Dichter“ des australischen Regisseurs Peter Weir im Englischunterricht der Jahrgangstufe 11 vor Augen geführt bekommen? Am Beginn eines neuen Schuljah-res werden dort in einer kurzen Szene Schüler einer Eliteschule gezeigt, deren Lateinunterricht aus sturem Dahersagen und endlosem Auswendiglernen von De-klinationen und Konjugationen besteht.
Andererseits, so meine Erfahrung aus vielen Gesprä-chen mit ehemaligen „Lateinern“, scheint die Zeit doch wenigstens einige Wunden zu heilen: Manche Lateinvokabel hat dann schließlich beim Erlernen einer modernen, einer lebenden Fremdsprache oder bei einem mit Fremdwörtern gespickten Text im Studium geholfen, und wenigstens ein bisschen Verständnis für die deutsche Grammatik hat man aus der Beschäftigung mit der lateinischen gewonnen. Dennoch bleiben Fragen: Ist Lateinunterricht nicht von gestern? Wozu soll das Wissen um eine tote Sprache noch gut sein? Lernt man Englisch- und Französischvokabeln nicht auch ohne Lateinkenntnisse, kann man Fremdwörter nicht in entsprechenden Lexika nachschlagen und sollte für deutsche Grammatik nicht doch eigentlich der Deutschunterricht zuständig sein? Wozu also Latein?

2. Lateinunterricht heute

Apropos Fragen: Auch das kennen wir doch alle aus dem Lateinunterricht! Da wurde und wird beim Konstruieren der Sätze doch ständig gefragt nach Subjekten, Objekten und Genitiv-Attributen: Wer singt? Wen oder was ruft Claudia? Wem schenkt Lucius ein Buch? Wessen Villa ist schön? Auch so etwas, das einem bisweilen die letzte Lust am Lateinischen verleidet und den letzten Nerv gekostet hat! Einer Frage aber gingen die Lehrerinnen und Lehrer beständig aus dem Weg: Wozu das Ganze? Welchem Zweck dient Latein?
Diese Frage zu beantworten heißt: sich ihr zuerst unter einer bestimmten Hinsicht zu verschließen. Wenn der Zweck des Lateinunterrichtes allein daran gemessen wird, ob man ihn in seinem späteren Berufsleben „brauchen“ kann, ob er also letztlich ökonomisch sinnvoll ist, ist die Antwort klar: Kein Bankkaufmann oder Betriebswirt, kein Architekt oder Chemiker „braucht“ Latein ! Aber wenn man – wie leider heute viel zu oft – nur die Messlatte des Ökonomischen und des Wirtschaftlichen an Schule anlegt, ist es meines Erachtens um den Sinn und Zweck vieler Fächer geschehen: Ein Bankkaufmann oder Betriebswirt „braucht“ auch nicht das Ohmsche Gesetz, ein Architekt oder Chemiker kann mit Shakespeares Dramen und Sonetten nichts „anfangen“.
Schule ist neben der immer auch zu ihrem Auftrag gehörenden Vorbereitung auf das Berufsleben zu mehr da: etwa zum Erlernen von Fachinhalten und fächerübergreifenden Lernstrategien, von Team- und Kon-fliktfähigkeit und zur Entwicklung personaler Mündigkeit. Und gerade beim letzten Punkt setzen eine ganze Reihe von Fächern an: Geschichts- und Politikunterricht, Religion und Philosophie, Deutsch und Fremd-sprachenunterricht und darunter auch der Lateinunterricht fordern dazu heraus, sich eine eigene Meinung, eine eigene Lebenshaltung zu bilden und diese notfalls in die Diskussion mit anderen einzubringen und ganz wichtig auch durch andere, fremde Lebenshaltungen zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.
Der Lateinunterricht ist im Idealfall eben nicht nur das Pauken einer übrigens gar nicht so toten Sprache, sondern auch Beschäftigung mit einer anderen, nämlich der antiken Kultur, ihren Werten und Überzeugungen, er ist somit interkulturelles Lernen. Nach Uvo Hölscher ist die Antike „die uns nächste Fremde“, will meinen: eine durchaus fremde Kultur, in die hineinzuversetzen zwar schwer fällt, aber in die einzutauchen für uns auch leichter ist als in andere, uns heute gleichzeitige
Kulturen wie beispielsweise die asiatischen, eben weil unsere Moderne sich im letzten aus den beiden wichtigsten antiken Zivilisationen des Mittelmeerraumes speist, der jüdisch-christlichen und der griechisch-römischen Kultur.
Im Idealfall ist Lateinunterricht die kritisch-konstruktive Konfrontation von antiker und moderner Kultur. Hierzu zwei kurze Beispiele, die belegen, dass man auch als Moderner noch von den Alten lernen kann: Wohl die meisten, die Latein in der Schule gelernt haben, wurden über kurz oder lang mit Caesars Bericht über „seinen“ Gallischen Krieg konfrontiert. Manch einem dreht sich noch heute ob der Begeisterung des Lateinlehrers über den dort geschilderten Schlachtenlärm und die tödliche Präzision, mit der Caesar gegen seine Gegner vorgeht, der Magen um. Aber was bedeutet es eigentlich für eine moderne Gesellschaft, wenn sie sich einerseits in der Waffentech-nik und den Möglichkeiten und Folgen der Kriegsfüh-rung radikal von der Antike unterscheidet, andererseits ein US-amerikanischer Präsident in seinen Reden ver-gleichbare Begründungs- und Denkstrukturen wie Caesar benutzt. Hier wie dort wird Krieg mit fast gleich klingenden Argumenten gerechtfertigt, hier wie dort werden Gegner dämonisiert und zu einer Achse des Bösen hoch stilisiert.
Zu recht abschreckend ist auch oft der Umgang mit Sklaven in der Antike. Wenn ein Marcus Porcius Cato dem Besitzer eines Landgutes empfiehlt, „mehr zu verkaufen als zu kaufen“  und das auch hinsichtlich alter und kranker Sklaven, die man besser möglichst schnell „abstößt“, da eine Pflege sich nicht rentiert, mag man erschreckt sein über eine solche Verdingli-chung von Menschen. Aber gleichzeitig leisten wir uns den Luxus, unsere Kinder mit Spielzeug zu beschenken, das in Entwicklungsländer durch Arbeit von Kinderhänden produziert wurde. Gleichzeitig werden tagtäglich Menschen  Männer, Frauen und Kinder, wie Waren verkauft und z.B. als billige Arbeitskräfte oder sexuell ausgebeutet. Was bedeutet es für die Modernität unserer Gesellschaft, wenn gerade in den genannten Punkten Ähnlichkeiten mit der antiken Gesellschaft konstatiert werden müssen. Zumindest zeigt sich, dass der Lateinunterricht es mit hochaktuellen Fragen zu tun hat und nicht von gestern ist.

 3.Und Morgen?

Um es sofort offen zu sagen: Selbstverständlich kann auch heute keine Lateinlehrerin und kein Lateinlehrer Schülerinnen und Schüler davor bewahren, Deklinationen, Konjugationen und Vokabeln zu lernen. Dieses Lernen wird auch in Zukunft immer mit Arbeit verbunden sein, und es macht keinen Sinn, in diesem Zusammenhang einer Spaßschule das Wort reden zu wollen. Aber eine Chance und Sinn hat der Lateinunterricht nur dann, wenn er das in ihm liegende Potenzial zu nutzen bereit ist, wie es bereits die beiden eben gegebenen Beispiele zeigen sollten. Der Lateinunterricht muss sich für die moderne Welt öffnen und er hat dies in den letzten Jahrzehnten durchaus getan. Kaum ein Fach hat sich in seinen Inhalten und Methoden so grundlegend und konsequent gewandelt wie das Lateinische. Wie kann, wie muss es weitergehen? Die folgenden Punkte sollen einen kurzen Überblick über Chancen und Möglichkeiten des Lateinunterrichtes auch im 21. Jahrhundert geben, der zu der Hoffnung Anlass gibt, dass das Lateinische als Schulfach seinen Sinn auch in Zukunft nicht verlieren wird.
§ Lateinunterricht und Neue Medien: Gerade das letzte Jahr hat gezeigt, dass antike Themen wieder „in“ sind. Viele Kinofilme, darunter zahlreiche so genannte block buster, o-rientieren sich an antiken Mythen (z.B. Wolfgang Petersens „Troja“ ) oder bedienen sich historischer Figuren (etwa Oliver Stones „Alexander der Große“). Hier kann und muss der Lateinunterricht in der Medienerziehung eine wichtige Rolle spielen.
§ Lateinunterricht und PISA-Studie: „Nicht schon wieder PISA!“, werden einige jetzt sagen. Aber gerade das Lateinische mit dem typischen hohen Bestandteil an Textarbeit vermittelt Textentschlüsselungs-, Lese- und In-terpretationskompetenz, wenn etwa vor dem eigentlichen Übersetzen Schlüsselwörter herausgefunden werden müssen oder wenn beim Übersetzen nach sinnvollen deutschen Pendants zu den lateinischen Wörtern gesucht werden muss.
§ Lateinunterricht und andere Fächer: Gerade die Fähigkeit, Erlerntes aus verschiedenen Fächern und Fachbereichen miteinander in Beziehung zu setzen und zu verknüpfen, ist eine der zentralen Leistungen, die unsere heutigen Schülerinnen und Schüler und damit auch die Lehrerinnen und Lehrer zu erbringen haben. Das isolierte Nebeneinander der Fächer gehört mittlerweile der Vergangenheit an. Dennoch muss die Zusammenarbeit wei-ter intensiviert, müssen Synergieeffekte stärker genutzt werden. Das gilt auf unteren Ebenen etwa bei der Einbeziehung deutscher, englischer oder französischer Lehnworte beim Vokabellernen genauso wie in komple-xeren Zusammenhängen. So schöpfen viele Werke der bildenden Kunst und der Literatur aus dem Reservoir antiker Mythen. Viele Shakespeare dramen etwa haben Vorbilder in der antiken Literatur, so dass sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für fächerübergreifende Zusammen arbeit in der Oberstufe finden lassen..
§ Das Drehtürmodell am Rhein-Gymnasium: Ein Beispiel für die intensivere Zusammenarbeit verschiedener Fächer am Rhein-Gymnasium ist das so genannte „Drehtürmodell“, in dem die beiden „Konkurrenzfächer“ Latein und Französisch im Rahmen einer Begabtenförderungsmaß nahme zusammengeführt werden. Schülern Schülerinnen, die in der Orientierungsstufe ein entsprechendes Leistungsvermögen an den Tag gelegt haben, steht die Möglichkeit offen, in der Jahrgangsstufe 7 statt einer gleich zwei neue Fremdsprachen zu erlernen, so dass sie je zwei Stunden Französisch- und Lateinunterricht pro Woche haben. Ergän zend findet alle zwei Wochen eine Zusatzstunde statt, in der entstandene Fragen und Probleme geklärt werden können und eventuell nicht Verstan-denes nachgearbeitet wird. Sollte es sich zeigen, dass der eine oder andere mit dieser Doppelbelastung überfordert ist, besteht jederzeit die Möglichkeit, aus diesem Modell wieder auszusteigen und sich auf eine der beiden Sprachen zu konzentrieren.  Für eine abschließende Bewertung dieses Fördermodells ist es nach eineinhalb Schuljahren zwar noch zu früh, aber die bisherigen Beobachtungen zeigen, dass durchaus einige der Teil-nehmerinnen und Teilnehmer in der Lage sind, die großen Anforderungen beim Erlernen gleich zweier Fremdsprachen zu meistern.

   

Jörg Schmitter