Die Realschule I. Ordnung zu Mülheim am Rhein hatte gerade zwei Jahre zuvor das im neugotischen Stil in der Adamstraße errichtete erste eigene Schulgebäude bezogen, als offensichtlich der früheste nachgewiesene Versuch an unserer Schule unternommen wird, internationale Kontakte zu pflegen. Verwunderlich ist die Übersetzung der Schulbezeichnung mit Royal College. Sollte damit in Anlehnung an das spanische real das Renommee der Schule aufgewertet werden, um Schüler aus dem Ausland nach Mülheim zu holen?
Sicher ist, dass Mülheim damals eine aufstrebende Industriestadt war, deren rapides Wachstum sich nicht zuletzt auch im Anstieg der Schülerzahlen unseres Gymnasiums widerspiegelte.
Das Kabelwerk Felten&Guillaume hatte zur gleichen Zeit seine Produktionsanlagen von Köln nach Mülheim verlegt, weitere Industrieansiedlungen folgten. Wirtschaftliche Kontakte mit der führenden Industrie- nation England waren lebenswichtig für eine Stadt, die sich wieder einmal anschickte, dem mächtigen Nachbarn Köln Konkurrenz zu machen. Vermutlich stand hinter der Initiative das Ansinnen, in Zukunft als european player eine Rolle zu spielen.
Die Anwerbung zahlungskräftiger ausländischer Schüler gehört zu den Bemühungen des sehr aktiven Schulleiters Dr. Franz Cramer, die Schule dauerhaft als Realgymnasium zu etablieren und ihre Finanzierung zu sichern. Das jährliche Schulgeld von 100 Guineen dürfte dem Jahreseinkommen eines Industriearbeiters entsprochen haben. Ob diesen Bemühungen Erfolg beschieden war, wissen wir nicht.
Sicher ging es bei diesem Angebot der Schule nicht um die Pflege der englischen Sprache, denn die führte damals noch ein Schattendasein am Realgymnasium. Die moderne Fremdsprache schlechthin war stattdessen das Französische, die beherrschende Verkehrssprache in Europa. Ziel des Unterrichts war vor allem die schriftliche Beherrschung des Französischen, nur selten die kommunikative Kompetenz, die hundert Jahre später den Fremdsprachenunterricht prägt.
Die kommunikative Kompetenz, wie ist sie besser zu erreichen als durch die direkte Anwendung vor Ort oder mit dem locuteur natif, kurz gesagt auf dem Wege des Schulaustauschs? Denn wenn auch die englische Sprache dem Französischen als Verkehrssprache den Rang mittlerweile längst abgelaufen hat, ist Frankreich heute mehr denn je wichtigster politischer und wirtschaftlicher Partner Deutschlands. Französisch wird nicht nur in Frankreich, Kanada, Belgien und der Schweiz gesprochen, sondern ist auch in vielen Ländern der Dritten Welt nach wie vor erste Amtssprache. Eine gute Beherrschung dieser Sprache stellt also gerade für deutsche Schulabgänger ein nicht zu unterschätzendes Qualifikationskriterium dar.
Seit Mitte der achtziger Jahre hat sich denn auch die Fachschaft Französisch des Rhein-Gymnasiums intensiv bemüht, in Frankreich eine Schule für eine dauerhafte Partnerschaft zu finden. Mehrere Anläufe, sei es über private Kontakte mit befreundeten französischen Kollegen, sei es auf dem offiziellen Weg über die vom Kultusministerium eingesetzte Vermitt- lungsstelle, scheiterten. Mal waren es die französischen Eltern, die von allzu permissiver Erziehung deutscher Eltern gehört hatten und befürchteten, ihre Kinder könnten hier unter die Räder geraten, mal handelte es sich, wie im Fall einer Schule in Marseille, um ein Collège in einer sozialen Problemzone, dessen Schüler wohl zu uns kommen wollten, das aber wegen seiner prekären Lage die Aufnahme unserer Schüler nicht riskieren wollte. Zumindest konnten einige individuelle Schülerpartnerschaften vermittelt werden, die aller- dings nicht in die von uns erhoffte Schulpartnerschaft mündeten.
Schließlich führten die Bemühungen doch im Jahr 1990 zum Kontakt mit dem Lycée Polyvalent in Neufchâtel-en-Bray in der Normandie. Der Schultyp Lycée, unserer Sekundarstufe II vergleichbar, umfasst die letzten drei der 12 Regelschuljahre. In dieser eigenständigen Schulform werden die jungen Franzosen auf die Abschlussprüfung, das baccalauréat vorbereitet, das unserem Abitur entspricht. Die Schule suchte Partner für ca. 25 Schülerinnen und Schüler der seconde, die altersmäßig den Schülern der Jahrgangsstufe 10 entsprechen. Weil hier auf einmal nur 16 Schülerinnen und Schüler bereit waren, gleichaltrige Franzosen aufzunehmen, wurde der Austausch auf die Jahrgangsstufe 9 ausgedehnt. Schließlich machten sich 23 „Pioniere“ auf den Weg in die Normandie zur insgesamt zehntägigen Austausch- fahrt.
Das Programm, das der französische Kollege vorbereitet hatte, war vielfältig und interessant: neben dem obligatorischen Schulbesuch – schließlich gilt es beim Austausch ja auch die Unterschiede im Schulsystem kennenzulernen – führten uns Exkursionen nach Paris, ans Meer und in die Haute-Normandie. Ein Tag für Paris ist natürlich bei weitem nicht genug, aber ein Muss für einen ersten bleibenden Eindruck. Die Fahrt an die Küste des Ärmelkanals, la Manche, wie ihn die Franzosen nennen, ermöglichte uns bei der Besichtigung der Baustelle des Kernkraftwerks von Penly einen Blick in das Herzstück des Reaktors, den zu diesem Zeitpunkt noch offenen Reaktorkessel aus Edelstahl für die Brennelemente. Nicht weniger lohnend war der Besuch der Küstenstädte Dieppe, Fécamp und natürlich Etretat mit seinen pittoresken Kreidefelsen und aiguilles. Eine Tagesexkursion wert war natürlich die Regionalhauptstadt Rouen mit den Sehenswürdigkeiten in der näheren Umgebung, insbesondere der Klosterruine Jumièges. Bei einem Aufenthalt in der sehr landwirtschaftlich geprägten Normandie, bekannt für ihre Vielfalt an Käsesorten, allen voran der Camembert, durfte selbstverständlich der Besuch einer Käserei nicht fehlen, in der der Neufchâtel produziert wird.
Sicher gehört zu jeder Austauschfahrt ein Programm zur Landeskunde, doch ist es eher von sekundärer Bedeutung. Das Wichtigste ist der Kontakt mit Gleichaltrigen aus dem Nachbarland, mit deren Familien und Freunden. Ihn zu pflegen dient, hier wie in Frankreich, insbesondere das Wochenende en famille. Es geht darum, das Alltagsleben im andern Land kennenzulernen und vielleicht zu der Feststellung zu kommen, dass es sich nicht wesentlich von dem zu Hause unterscheidet. Wären da nicht die Unterschiede der Esskulturen. Der direkte Kontakt mit der Familie fördert die emotionale Seite des Austauschs. Trotz aller Bemühungen seitens der organisierenden Lehrerinnen und Lehrer die richtigen Partner zusammenzubringen stimmt in einigen Fällen, wie es heißt, die „Chemie“ nicht. Doch zeigen jedesmal die tränenreichen Abschiede, dass viele neue Freundschaften entstanden sind.
Die Austauschfahrt des folgenden Jahres stand leider unter einem schlechten Stern. Eine kleine Gruppe von Schülern hat am Tag vor der Abreise die Ermahnungen und Spielregeln für das Verhalten im Ausland vergessen, noch dazu in aller Öffentlichkeit, nämlich vor dem Rathaus. Man muss wissen, dass in einer ländlichen Kleinstadt wie Neufchâtel-en-Bray Normenverstöße ganz anders wahrgenommen werden als in der Anonymität der Großstadt. Der Ruf des Rhein-Gymnasiums war beschädigt. Trotz der Willensbekundung der Schulleitung, den Austausch fortzusetzen, sahen sich wohl die französischen Eltern in ihren Vorbehalten gegen die Jugendlichen aus der Großstadt bestätigt. So wurde der Austausch im folgenden Jahr von Seiten der Franzosen nicht mehr fortgesetzt.
Erst im Jahr 1996 kam wieder ein Austausch mit einer französischen Schule zustande, allerdings für die Schülerinnen und Schülern des Anfangsunterrichts der Jahrgangsstufe 7. Unsere neue Partnerschule war das Collège Louis-Aragon in Imphy, einer kleinen Industriestadt im westlichsten Département (entspricht in etwa unserem Regierungsbezirk) der Region Burgund, nur wenige Kilometer entfernt von Nevers.. Der Ordnung halber sei noch erwähnt, dass der größte Arbeitgeber in Imphy die Metalllegierungen für die Euromünzen produziert.
Unsere Schülerinnen und Schüler widerlegten schnell die Bedenken mancher, dass ihre noch geringe Sprachkompetenz Probleme bringen könnte durch die Unbefangenheit und Offenheit, mit der sie sich auf die neue Situation einzustellen wussten, und bewiesen mit ihren Fortschritten, wie sinnvoll ein solcher Austausch auch schon im Rahmen des Anfangsunterrichts sein kann. Die Qualität der Verständigung hängt meist weniger von der Kompetenz in der Fremdsprache als von der Kommunikationsbereitschaft ab.
Auch in den beiden folgenden Jahren wurde der Austausch mit dem Collège Louis-Aragon gepflegt, allerdings, weil seine Kapazität nicht mehr ausreichte, unter Beteiligung weiterer Schulen aus der Umgebung. Im zweiten Jahr war es das Collège Paul Langevin in Fourchambault, im dritten das Collège von La Guerche, beides Städtchen wie Imphy aus der näheren Umgebung von Nevers. Zu den Programmpunkten gehörten Besuche von Dijon oder La Charité-sur-Loire, Decize und dem Industriemuseum in la Machine, Bourges und natürlich Nevers. Das für die Schülerinnen und Schüler mit Sicherheit attraktivste Ziel wurde auf der Rückreise angesteuert: Paris. Die Fahrtunterbrechung reichte immerhin für eine Stadtrundfahrt zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten vom Eiffelturm bis zum Montmartre, wenn nicht, wie in einem Fall, eine Großdemonstrations das Fortkommen in Paris fast unmöglich machte, weil der Verkehr zum Erliegen kam. Immerhin für uns ein anschauliches Beispiel französischer Demonstrations- kultur.
Es ist sicher nicht zuletzt den Austauschaktivitäten zuzuschreiben, dass Französisch als zweite Fremdsprache an Attraktivität gewann. Waren es anfangs nur 25 Schülerinnen und Schüler, die nach Frankreich wollten, zog es drei Jahre später 58 Mädchen und Jungen dorthin. Angesichts rückläufiger Teilnehmerzahlen unter den Deutschschülern ließ sich der Austausch mit Imphy nicht mehr aufrechterhalten. Eine neue Partnerschule fand sich glücklicherweise in Beaune, das Collège Jules-Ferry, 1999 noch sekundiert von einem weiteren Collège in der Nähre von Auxerre. Noch vor unserem Gegenbesuch in Beaune wurde die Schulpartnerschaft besiegelt. Sie besteht mittlerweile im siebten Jahr.
Beaune ist ein attraktives Ziel für einen Schulaustausch, nicht weil es die Hauptstadt des Burgunderweins ist, sondern mit seinen 23000 Einwohnern eine überschaubare Größe hat und dennoch interessante Ziele am Ort selbst und in der
Umgebung bietet. Wie für unsere französischen Gäste der Dom und die Kölner Altstadt zum obligatorischen Fixpunkt des Programms gehören, führt in Beaune kein Weg g vorbei an der Besichtigung der Hospices, einer Sozialeinrichtung aus dem 15. Jahrhundert, die dank ihrer soliden finanziellen Ausstattung in Form der besten Weinlagen heute noch das städtische Krankenhaus und Altersheim trägt und dabei noch Mittel für die medizinische Forschung bereitstellt. Weitere Ziele des von den französischen Kolleginnen ausgearbeiteten Programms der vergangenen Jahre waren u. a. Lyon, Autun, Chalon-sur-Saône, Besançon, Cluny und natürlich mehrfach Dijon, die Hauptstadt des Departements Côte-d’Or. Wie haben dafür Aachen, Bonn, Düsseldorf und Ziele im Ruhrgebiet sowie im Bergischen Land anzubieten.
Die Partnerschaft zwischen dem Rhein-Gymnasium und dem Collège Jules-Ferry besteht mittlerweile wie gesagt im siebten Jahr. Die mit Madame Harlay-Pronot begonnene vertrauensvolle Zusammenarbeit wird seit zwei Jjahren von Madame Surrel ebenso kompetent fortgeführt.
Die Vorbereitungen für den nächsten Austausch sind bereits im Gange. Wir wünschen uns und den künftigen Teilnehmern einen langen und ebenso wie bisher gewinnbringenden Fortbestand der Partnerschaft.
Gerd Raus